© Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld

Andacht von Superintendent Christian Neumann

Ich bin fremd gewesen und ihr habt mich aufgenommen

I. Eine Menschheits- und Glaubensgeschichte

Liebe Gemeinde,

„Gott ist auch mitgegangen in die Fremde.“  Die Bibel ist ein Buch der Wanderschaft und der Bewegung. Sie zeigt uns dabei die Härte, die das Unterwegssein bedeutet. Mehr noch aber ist sie ein Buch über die Würde, die Begabungen, die Glaubenskraft und den Segen von Migrantinnen und Migranten. 

In der Gnadenkirche Tidofeld in Ostfriesland ist die bundesweit erste und bisher einzige Dauerausstellung zur Flucht-, Ankunfts- und Integrationsgeschichte der Heimatvertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten untergekommen. Lebensgeschichten erzählen dort sehr direkt vom Weggehen in die Fremde. Interviews mit Zeitzeugen führen nach Jahrzehnten unmittelbar wieder zurück. „Damals, als wir uns aufmachen mussten…“ Ein Foto wird mitgenommen, die Puppe. Die warmen Sachen übereinander angezogen. Einige Kuchenrezepte bleiben im Kopf. Der Hunger begleitet die Menschen treu auf ihrer Odyssee bis an den Ort, wo die Welt zu Ende ist: eine Baracke in Tidofeld. In der Küche überdauert der Geruch von Heimat. Volkslieder werden gesungen, wenn schlesische Landsleute zu Besuch sind. Alte Choräle bekommen einen neuen Klang und spenden Trost: „Jesu, geh voran auf der Lebensbahn. Soll´s uns hart ergehn, lass uns feste stehn.“ 

Der Glaube trägt. Es geht doch weiter. Das Leben wird weitergegeben, von einer Generation zur nächsten. Für die Nachkommenden ist das fremde Land schon wieder Heimat. Sie wissen gar nicht mehr, wie es dort aussieht, wo die Eltern einmal aufgebrochen sind. Sie wollen auch nicht mehr dorthin zurück. In Ostfriesland geht das Leben weiter. „Ich bin fremd gewesen und ihr habt mich aufgenommen.“

Flucht und Vertreibung, Migration und Heimatsuche – das ist ein Menschheitsthema. Zu allen Zeiten und an allen Orten haben Menschen sich auf den Weg machen müssen. Weil die Lebensgrundlagen abhandengekommen waren. Weil gewaltvolle Einflüsse sie dazu zwangen. Weil das Ferne und Unbekannte in der Fremde doch verheißungsvoller schien als das bisher – leidvoll – Vertraute. Neben die konkrete alltäglich spürbare Not trat dabei die geistige und religiöse Herausforderung, in der Fremde den eigenen Glauben lebendig und tragfähig zu halten, also buchstäblich „Gott und die Welt“ neu zusammendenken zu müssen.

Ein Menschheitsthema. Und so ist die Bibel ein Menschheitsbuch der Wanderschaft. Die Erzväter und -mütter des Glaubens sind Migrantenfiguren: Abraham und Sara (Genesis 12) verlassen auf Gottes Verheißung hin ihren Herkunftsort Haran und ziehen nach Kanaan, von wo sie wiederum als Wirtschaftsflüchtlinge aufbrechen nach Ägypten. In eben jenem Land waren schreckliche Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung. Die Israeliten, die dort als Sklaven arbeiten mussten, hatten darunter sehr zu leiden. Deshalb führte Mose das Volk aus der ägyptischen Sklaverei in die Freiheit des „gelobten Landes.“ Die Ur-Erzählung des Volkes Israel.

Der Flüchtling Jakob, der versklavte Josef oder die Migrantin Esther am persischen Hof bündeln die Erfahrungen von Generationen und den „Migrationshintergrund“ eines ganzen Volkes. Wir lesen dabei nicht einfach den Bericht bloßer Fakten. Vielmehr verdichten diese Kapitel sie zur Erfahrung, zur Hoffnung und Gewissheit, dass in genau solchen Geschichten und Realitäten des Fremdseins Gott selbst erfahrbar ist. Menschen werden in ihnen zum (Über)Leben und zum Glauben befähigt. Ja mehr noch: Gott selbst zeigt sich darin als ein mitgehender Gott.

Im Interview erzählt Horst Bethke, wie auf der Flucht aus Westpreußen gen Westen sein Leben und das seiner Familie am seidenen Faden hing und doch gehalten wurde. Fast wäre nachts das Pferdefuhrwerk von der Oderbrücke in den Fluss gestürzt und konnte erst durch ein aus dem Schlaf aufgewachtes Familienmitglied gestoppt werden. Für Horst Bethke eine Tat Gottes.  Daraus erwuchs sein Bekenntnis: „Gott ist auch mitgegangen in die Fremde.“ Als späterer Pastor vergaß er nie die Not, die sie als Flüchtlinge erlitten haben. Und die Bewahrungsgeschichten haben ihm Hoffnung über die Gegenwart hinaus gegeben.


II. Du selbst: ein Fremdling

[Statt der folgenden Passage können an dieser Stelle eigene (familien-)biographische Hintergründe erzählt werden. Es eignet sich auch das Interview mit Ottilie Helms]

„Ich bin fremd gewesen und ihr habt mich aufgenommen.“

Ich bin ein Flüchtlingskind. Mein Vater ist aus der DDR kurz vor dem Mauerbau 1961 mit Eltern, Bruder und Schwägerin von Dresden über Berlin in den Westen „rübergemacht“. Da war er 17 Jahre alt. Das Abitur war ihm wegen der empfangenen Konfirmation verweigert worden. So steckte er gerade in der Ausbildung.  Seine Schwester Gerda – jung verheiratet – blieb im Osten. Nach einer Zeit der „Wanderschaft“ fand das Leben einen neuen Ort. Sie siedelten im südlichen Ostfriesland und bauten zwei Gartenbaubetriebe auf.  Mein Vater heiratete eine reformierte Ostfriesin aus dem Dorf, gründete eine Familie und trank schon bald lieber Tee als Kaffee. 40 Jahre lang arbeitete er im Kirchenvorstand seiner Gemeinde mit, pflegte den Kontakt zur Partnergemeinde in Sachsen. 
Eine Grenze trennte unser Land und zahllose Familien. Und die Überwindung der Teilung vor 35 Jahren haben viele als Gottesgeschenk verstanden und erlebt. Gott, der in die Freiheit führt – manchmal mit einer friedlichen Revolution.

Die Fluchtgeschichte hat die Erinnerung wie auch die Erzählungen unserer Familie geprägt. Und wenn wir in unseren Kirchengemeinden nachfragen, wer selbst oder in der Familie Flucht- oder Migrationserfahrungen hat, machen wir erstaunliche Entdeckungen.
Unzählige haben einst ihre Heimat verlassen, wurden von anderen weitergeschickt, abgelehnt, mit Misstrauen betrachtet (vgl. das Interview mit Ottilie Helms aus Hage). Manche erzählen von unerwarteter Aufnahme, der Bereitschaft zum Teilen, dem neuen gemeinsamen Leben unter einem Dach.
In der jüdischen Tradition wird als Begründung und Motivation dafür, „den Fremden zu lieben wie dich selbst“ (3. Mose 19,34), mehrfach betont, dass „du [Israel] selbst Fremdling in Ägypten gewesen bist“ (2. Mose 22,20). „Denn du kennst das Herz des Fremden“ (2. Mose 23,9). Die Erinnerung ist es also, die das Herz öffnet für Teilgabe und Annahme, für Begegnung und Aufnahme in die Gemeinschaft. Integration ist Gedenken der eigenen Migration. 

Wieviel Fremdling-Erfahrung steckt in uns?
Und haben wir selbst direkte Begegnungen mit Flüchtlingen? Die eigene Fremdheitsgeschichte „im Gepäck“ wäre es gut, wenigstens einen Flüchtling oder Asylsuchenden persönlich kennenzulernen und den anonymen Zahlen ein Gesicht zu geben. Viele Menschen in unseren Kirchengemeinden haben sich auf diesen Weg gemacht. Sie geben Sprachkurse im Gemeindehaus, gehen Behördengänge mit. Sie schenken Dinge des täglichen Bedarfs weiter oder bringen in Kochkursen die verschiedenen „Gaumen“ auf einen Herd. In einem Dorf in Ostfriesland bringen Gemeindeglieder Flüchtlingen das Fahrradfahren bei.

 „Ich bin fremd gewesen und ihr habt mich aufgenommen.“


III. Gott selbst ein Fremdling

Unser Glaube hat eine besondere Lebensnähe: Denn er vertraut darauf, dass Gott selbst sich zum Fremdling gemacht hat. Er migriert in Jesus Christus aus den himmlischen Höhen auf den Boden der irdischen Realität. Er erfährt Ablehnung, denn „die Seinen nahmen ihn nicht auf“ (Johannes 1,11). Aber er wollte den Menschen einfach nahe sein. Jesus ist diesen Weg Gottes gegangen. Ja, er war grundsätzlich unterwegs. Ein Migrant zwischen den Welten: Himmel und Erde, Arm und Reich, Angesehene und Verachtete, Kranke und wieder zum Leben Gelangte.  

Den Glauben der Mütter und Väter im Herzen, hat Jesus von der Liebe Gottes und untereinander so zu sprechen gewusst: „Was ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern (und Schwestern) getan habt, das habt ihr mir getan“ (Matthäus 25,40). Konkret: „Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin fremd gewesen und ihr habt mich aufgenommen.“

Jesus erzählt auf seiner Wanderschaft seine eigene Geschichte, die zugleich die Geschichte vom Leben aller Menschen geworden ist: „Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen“ – aber eben auch: „Ich war fremd, und ihr habt mich nicht aufgenommen“ (Matthäus 25,35.38.43). So lässt der Gleichniserzähler Jesus den zum Weltgericht kommenden Menschensohn und König von sich sagen. 
Die Botschaft des Gleichnisses ist für mich eindeutig und subtil zugleich. Sie ist eindeutig, denn – wie beim Verhalten zu Hungernden und Dürstenden, Nackten, Kranken und Gefangenen – so wird der königliche Weltenrichter am Ende der Zeiten auch das Handeln oder Nichthandeln an den Fremden „als seinen geringsten Brüdern“ und Schwestern auf sich beziehen. Der Fremde steht in einer Reihe mit anderen, die sozial benachteiligt werden. Sie können also gerade nicht gegeneinander ausgespielt werden. Das Gleichnis redet weder einer Bevorzugung noch der Benachteiligung von Fremden gegenüber anderen Bedürftigen das Wort.

Die Botschaft des Gleichnisses ist zugleich subtil, denn es spielt mit dem Moment der Überraschung. Die Gerechten fragen „Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen?“. Es ist also nicht möglich, Fremde – Kranke, Hungernde oder Gefangene – von vorneherein für oder gar als Christus zu vereinnahmen. Aber es gilt stets damit zu rechnen, auch im Fremden von Christus überrascht zu werden.
Wer wird mir heute im andern begegnen?


 IV. Fremd im eigenen Land? Eine Kommunikationsaufgabe

„Ihr habt mich aufgenommen.“
Mühsam genug hat das Christentum gelernt, dass Gottes Zuwendung allen Menschen in gleicher Weise gilt, nicht nur den Glaubenden, den „Volksgenossen“, den Gleichgesinnten. Deshalb bekennen sich Christinnen und Christen heute zur gleichen Würde jedes Menschen, ohne jede Abstriche aus Gründen der Herkunft, der Religion oder anderer Merkmale. Dieser spät errungene Glaubensgrundsatz darf nicht wieder verspielt werden. Doch ihn im Blick auf Zugewanderte zu bekräftigen, reicht alleine nicht. Er muss auch gegenüber denen bewährt werden, die derzeit aus dem Mehrheitskonsens der Gesellschaft auswandern. 
Die Kritik an irregeleiteten Feindbildern muss sich mit der Frage verbinden, wie Menschen von solchen Fixierungen auf die Fremdenangst befreit werden können. Ich denke, möglich ist das nur durch beides: ein klares Nein gegenüber der Ausgrenzung von Zugewanderten. Und dann durch achtsame Gespräche, vor allem durch geduldiges Zuhören. Dadurch können Menschen lernen, die eigene Unsicherheit nicht in Aggressionen gegen Fremde auszuleben. Dem Andersdenkenden Achtung zu schenken, zeigt sich in der Bereitschaft zur Kommunikation. Deren Ernstfall ist der Konflikt zwischen widerstreitenden Haltungen. „Ich habe meine Meinung herausgeschrien und ihr habt mir zugehört.“

Wir erleben in dieser Zeit, wie Abschottungstendenzen auf dem Vormarsch sind. Das Anderssein des Fremden macht nicht wenigen auch Angst. „Ich fühle mich fremd im eigenen Land“, heißt es da. Populisten und Extremisten verlocken zu gern mit ihren Scheinlösungen. Offene, freiheitliche Gesellschaften stoßen zugegebenermaßen an die Grenzen ihrer Integrationskraft. Wenn der Zusammenhalt einer Gesellschaft in die Krise gerät, ist das auch ein Kommunikationsproblem. Bevor erschreckt über Stimmengewinne rechter Parteien geklagt wird, sollte jeder, der so klagt, sich fragen: Wann habe ich das letzte Mal versucht, jemanden von einer solchen Wahlentscheidung abzubringen? Wann bin ich das letzte Mal einem solchen Gespräch nicht ausgewichen, sondern habe mich ihm gestellt? Bei solchen Versuchen kommt es nicht nur darauf an, Positionen zu widerlegen, sondern die Bedürfnisse zu besprechen, die sich in ihnen – und sei es noch so verquer – zu Wort melden. Auch das ist für mich die religiöse Seite von Integration: dem Grundsatz gewaltfreier Kommunikation verpflichtet, (immer wieder) das Gespräch zu suchen. „Und die Gerechten werden fragen: ‚Wann haben wir dich in der Echokammer abgeschottet gesehen und haben dich angesprochen?‘“


V. Ich bin fremd gewesen – Heimat ist kein Wort der Bibel

Gott selbst hat sich auf den Weg gemacht. Wer die Gemeinschaft mit ihm sucht, wird zum Teil des wandernden Gottesvolkes. Wer den Fremden aufnimmt, wird nicht anders können, als selbst in Bewegung zu geraten. Und wer mit Glauben, Hoffnung und Liebe auf dieser Erde zu leben beginnt, wird gleichsam zur Migrantin, zum Migranten: 

Unser Hoffen und Handeln, unsere Haltungen und unser Verhalten gehen nicht auf im Hier und Jetzt. Wer glaubt ist, wie Paulus schreibt, ein „Himmelsbürger“ (Philipper 1,27; 3,20) und darum „weltfremd“. Wir haben hier kein Bleiberecht.

Deswegen ist „Heimat“ kein Wort der Bibel. Denn die Wanderschaft geht weiter. Bis unser Herz Ruhe findet – in Gott selbst (Augustin). 
Wohin die Wanderung noch führt? Der Wegweiser hält sich bedeckt. In vielen Gleichnissen und Bildern wird von seinem Reich erzählt. Es muss dort sehr schön sein. Wie schön, das können wir nicht einmal erahnen. Wir würden es sonst vielleicht gar nicht mehr aushalten, hier.
Die Gläubigen wissen jedenfalls, dass sie noch nicht angekommen sind. Das Ziel ist auf keiner Landkarte verzeichnet. Ostpreußische Gutsbesitzer, deutschstämmige Kasachen, Gastarbeiter aus Südeuropa, Asylsuchende aus Afrika fliehen, wandern, suchen die Heimat. Die Barmherzigkeit Gottes lenkt sie. Der Heilige Geist ermutigt und tröstet auf dem Weg. Jesus geht voran.

Machen wir uns auf?

Amen.